Liebe Freunde,

 

San Corrado (St. Conrad), der Schutzpatron meines sizilianischen Wohnortes Noto, steht als überlebensgroße Bronzestatue mit dem Rücken zum Meer am Rande der Stadt. Im Gewand eines franziskanischen Mönches, mit langem Bart, auf einen Pilgerstab gestützt, hat er seinen rechten Arm segnend gegen die Stadt gerichtet.
Corrado Confalonieri stammt aus einem norditalienischen Adelsgeschlecht. Nach fahrlässiger Verursachung eines Großbrandes bei der Kaninchenjagd wurde an seiner statt ein einfacher Bauer zum Tode verurteilt. Von Schuld geplagt bekannte sich Corrado schließlich zur Tat. Daraufhin verlor er sämtliche Ländereien und sein ganzes Vermögens. Verarmt trat er in den Bettelorden der Franziskaner ein und pilgerte nach Sizilien. Hier hat er sich als Einsiedler in einer Höhle in der Nähe Notos frommen Übungen gewidmet. Nach der Legende soll er einen Freund und weitere Personen durch Beten von den Leiden eines Leistenbruches geheilt und weitere Wunder, unter anderen das der Brotvermehrung, vollbracht haben. Er ist am 19. Februar 1351 in Noto gestorben. Wegen seiner frommen Lebensweise ist er 1515 von Papst Leo X. seliggesprochen worden. Die Einwohner von Noto verehren ihn als Heiligen, dem sie ihr Schicksal aber auch reichlich Geldspenden anvertrauen. Die sterblichen Überreste des frommen Mannes wurden in einen prächtigen Silbersarkophag gelegt und in der Kathedrale aufbewahrt. Der mit Noto rivalisierende Nachbarort Avola erhielt als Reliquie nur seinen Kehlkopf, seiner norditalienischen Heimatstadt ist immerhin noch ein Daumen abgefallen.

Die Verehrung des San Corrado in Noto ist immens. Ein Beispiel: Geht man am Morgen ins Postamt, in dem schon mehrere Männer warten, um sich am Schalter ihre staatliche soziale Unterstützung auszahlen zu lassen und ruft laut: „Ciao Corrado“, so erhält man mehrstimmige Antwort. Einige der Wartenden drehen sich fragend um, wer ihn wohl gegrüßt haben könnte. Viele Familien geben ihren Söhnen den Namen des Stadtpatrons, um den Heiligen zu ehren und in der Hoffnung, dass so ein wenig von seiner Heiligkeit auf sie übergeht. In zahlreichen Vereinigungen und Bruderschaften schließen sie sich zusammen, hauptsächlich um die großen Prozessionen vorzubereiten und durchzuführen. Jährlich wird zum Todestag des Stadtpatrons diesem mit mehreren Messen in der Kathedrale gedacht. Der schwere silberne Sarkophag ist in dieser Zeit im Chorraum hinter dem Altar aufgestellt. Am Abend wird er schließlich von der Corrado-Bruderschaft, kräftigen Männern in einheitlicher Festkleidung, aus der Kathedrale durch die Stadt getragen. Nach katholischem Glauben soll so der Stadt Heil und Segen gebracht, ihr dadurch Schutz vor möglichem Unheil gewährt werden. Die Rückkehr der Reliquie in das prächtige Gotteshaus wird freudig mit Böllerschüssen und einem Feuerwerk abgeschlossen.

Jede Stadt, jede größere Ortschaft auf Sizilien hat einen oder mehrere Stadtpatrone – manchmal werden sie von der enttäuschten Gemeinde auch ausgewechselt –, die in großen Umzügen ihren Gemeinden Schutz und Segen sichern sollen. Das Städtchen Palazzolo Acreide unweit von Noto hat sich den Apostel Paulus als Beschützer ausgesucht. Aus der ihm geweihten Basilika San Paolo wird eine große Holzfigur, San Paolo mit schwarzem Bart und scharfem Schwert, unter ohrenbetäubenden Böllerschüssen, buntem Lamettaregen und rhythmischen Trommelsalven in die Stadt getragen. Junge Mütter reichen nackte, auf den Namen Paolo getaufte Kinder dem Stadtheiligen entgegen, damit sein Heil auch sicher auf die eigene Nachkommenschaft übergeht. Hier nimmt die Prozession buchstäbliche ekstatische Formen an. Im beschaulichen Städtchen Scicli werden wir Zeuge der alljährlich wiederkehrenden Prozession mit einer großen Holzstatue, die niemand geringeres darstellt als die Mutter Gottes: Maria, mit einem Schwert in der Hand, auf einem Pferd reitend. Ihr wird gedankt, dass ihre tatkräftige Hilfe zum Sieg über die Sarazenen und ihre Vertreibung von der Insel Sizilien geführt haben soll. In der ehemals bedeutsamen Hafenstadt Licata wird alljährlich der Heilige Angelus aufs Meer hinausgefahren, um Fischern und Booten den schützenden Segen zu bringen. Heilige und Aberglaube mischen sich zu einem unerschütterlichen Volksglauben.

Doch zurück nach Noto. Corrados Geburtsmonat Februar ist kein rechter Zeitpunkt für große Volksfeste. Es ist kühl, regnet häufig, in der Stadt sind keine Touristen. Die Einnahmen für Kirche, Stadt und Gewerbe beim Corradofest halten sich in Grenzen. Also wiederholt man das ganze Spektakel im August, wenn die Stadt voller Touristen ist und viele in Norditalien oder Ausland arbeitende Netini, Bürger Notos, ihren Urlaub in der Heimat verbringen. An jedem letzten Sonntag im August wecken bereits sechs Uhr gewaltige Böllerschüsse die noch verschlafene Stadt. Aufgeregt rufen die hellen Glöckchen von den Kirchtürmen die ersten Gläubigen zur Frühmesse. Die Kathedrale, der Dom von Noto, hat seine Tore weit geöffnet. Kurz vor zehn Uhr ruft das volle Geläut zur großen Messe. Die Bruderschaft der Träger schreitet im Abstand und Zweierreihe über die menschenleere prächtige Freitreppe. Ihr folgen in helle Umhänge gehüllte zumeist ältere Herren, angeführt von einer Dame in schwarzem spanischen Spitzenkleid: Die Ritter zum Heiligen Kreuz. Unverwechselbar mit großem Ritterkreuz auf ihrem Gewand, begeben sich über die lange Treppe in den Dom. Vor dem der Kathedrale direkt gegenüberliegendem Rathaus versammeln sich die Stadtoberen – der Bürgermeister, erkennbar an der Schärpe mit den Farben der italienischen Trikolore, Ratsmitglieder, Polizeioffiziere in Paradeuniform. Über den Corso von rechts kommen jetzt die hohen geistlichen Herren: der amtierende Bischof, sein vom Vatikan angereister Vorgänger, die Priester der Kathedrale und Dozenten des Priesterseminars. Die weltliche Macht steigt die Treppen des Rathauses hinab, die geistliche Macht wird in korrekter Reihenfolge per Handschlag begrüßt. Dazu intoniert die städtische Banda die italienische Nationalhymne. Nun steigt der Bischof die Treppen hinauf zum Dom, alles folgt. Außer von zwei auf beweglichen Galgen montierten Fernsehkameras wird die ganze Zeremonie von kaum jemandem verfolgt. Der Himmel ist strahlend blau, die Netini und ihre Gäste liegen wohl nach ausgedehnten Abendvergnügungen noch in den Betten. Auch die Reisebusse mit Besuchern aus ganz Sizilien sind noch nicht eingetroffen. Nur kleine Gruppen von Pilgern kommen von Zeit zu Zeit im Dom an, um an ihrem Ziel zu beten und die Erfüllung Ihrer Gelübde anzuzeigen.
Erst am Nachmittag ändert sich das Bild. Überall auf dem Corso, der Flaniermeile, haben Zigeuner auf beweglichen Gestellen errichtete Stände mit Luftballons und billigem Spielzeug für Kinder aufgestellt. Am Dom findet man Verkaufsstellen für lange und ganz lange Kerzen. Die Straßencafes sind gut besucht, an manchen Stellen des Corso ist kaum noch durchzukommen. Sommerlich knappe Kleidung der Passanten lässt viel tiefgebräunte Haut sehen - Ergebnis langen intensiven Sonnenbadens an den Stränden. Doch nun vergnügt man sich erst einmal, bis am Abend Glockenläuten in der ganzen Stadt und mächtige Böllerschüsse neben dem Dom anzeigen, dass der Auszug Corrados bevorsteht. Durch die dicht beieinanderstehende Menschenmenge auf der großen Freitreppe vor der Kathedrale wird eine Gasse gesichert. Der Sarkophag aus Massivsilber ist schwer und soll niemanden verletzten. Aus dem Dom kommen nacheinander Gruppen seltsam gewandeter Männer - Bruderschaften, die sich zu Ehren Corrados zusammengeschlossen haben. Es folgen Pilgergruppen aus anderen Diözesen, Frauenkongregationen und die Gruppe geistlicher Herren um den Bischof. Schließlich wird der Sarg sichtbar, er verweilt vor dem großen Eingangstor, die Menschen beginnen begeistert zu klatschen. Die Träger nehmen das Gestell wieder auf ihre Schultern und tragen es mühsam die vielen Stufen hinunter auf dem Corso. Hier nimmt die Banda hinter dem Sarg Aufstellung und begleitet von ergreifender Musik und einem großen Teil der Festgäste nimmt die Prozession ihren Gang. Gemächlich schlängelt sich der feierliche Zug durch die engen Gassen der Altstadt, immer höher hinauf bis in die Oberstadt. Seine Bewegung wird ständig unterbrochen, um den Trägern eine Pause zu gönnen und an den zahlreichen Kirchen Gebete zu sprechen. Träger bunter Lampions und großer Kerzen geleiten den Zug nahezu vier Stunden durch die Dunkelheit. Kurz vor Mitternacht nähert sich der Zug wieder der Kathedrale. Großes Glockengeläut und
llerschüsse zeigen die Rückkehr des Heiligen an. Bevor er wieder in den hell erleuchteten Dom getragen wird, feiert ihn die Festgemeinde mit einem prächtigen Feuerwerk. Danach kehrt Ruhe in die Stadt ein. Das Fest des San Corrado ist zu Ende. Zumindest für diesen Tag.

Am darauffolgenden Sonntag, allerdings erst um acht Uhr in der Früh, werden Einwohner und Gäste Notos wiederrum durch mächtige Böllerschüsse geweckt. Heute, im kleineren Rahmen, ist eine weitere Prozession vorgesehen. Auch die Unterstadt, wo die einfachen Leute und Zigeuner wohnen, soll durch den Heiligen gesegnet und vor Unbill schützt werden. Schon früh am Abend ziehen sonntäglich gekleidete Erwachsene mit ihren Kindern hinauf in Richtung Dom, um sich mit Einbruch der Dunkelheit zur festlichen Prozession zu formieren. Als der Zug an der Piazza Bolívar, an der ein kupfernes Standbild an den südamerikanischen Nationalhelden Simon Bolívar erinnert, pausiert, donnern gewaltige Böllerschüsse durch die Unterstadt. Der Lärm wird von hellen Blitzen begleitet und es dauert nur einen Augenblick, bis wir realisieren, dass sich mit dem menschengemachten Donner heftiges Gewitter mischt. Kurz darauf beginnt es auch schon zu regnen. Es schüttet, als wenn der Himmel alle Schleusen geöffnet hätte.

Auf der Straße sehen wir die Menschen durch den Regen nach Hause flüchten. Auch unsere Nachbarn erreichen vollkommen durchnässt ihr Heim. Der Mann dieses älteren Ehepaares heißt übrigens Corrado. Und seine Ehefrau? Richtig: Corradina.

Ganz liebe Grüße aus Sizilien

Euer Günter