Liebe Freunde,
San Corrado (St. Conrad), der Schutzpatron meines sizilianischen Wohnortes Noto, steht als überlebensgroße Bronzestatue mit dem Rücken zum Meer am Rande der
Stadt. Im Gewand eines franziskanischen Mönches, mit langem Bart, auf einen Pilgerstab gestützt, hat er seinen rechten Arm segnend gegen die Stadt gerichtet.
Corrado Confalonieri stammt aus einem norditalienischen Adelsgeschlecht. Nach fahrlässiger Verursachung eines Großbrandes bei der Kaninchenjagd wurde an seiner statt ein einfacher Bauer zum Tode
verurteilt. Von Schuld geplagt bekannte sich Corrado schließlich zur Tat. Daraufhin verlor er sämtliche Ländereien und sein ganzes Vermögens. Verarmt trat er in den Bettelorden der Franziskaner
ein und pilgerte nach Sizilien. Hier hat er sich als Einsiedler in einer Höhle in der Nähe Notos frommen Übungen gewidmet. Nach der Legende soll er einen Freund und weitere Personen durch Beten
von den Leiden eines Leistenbruches geheilt und weitere Wunder, unter anderen das der Brotvermehrung, vollbracht haben. Er ist am 19. Februar 1351 in Noto gestorben. Wegen seiner frommen
Lebensweise ist er 1515 von Papst Leo X. seliggesprochen worden. Die Einwohner von Noto verehren ihn als Heiligen, dem sie ihr Schicksal aber auch reichlich Geldspenden anvertrauen. Die
sterblichen Überreste des frommen Mannes wurden in einen prächtigen Silbersarkophag gelegt und in der Kathedrale aufbewahrt. Der mit Noto rivalisierende Nachbarort Avola erhielt als Reliquie nur
seinen Kehlkopf, seiner norditalienischen Heimatstadt ist immerhin noch ein Daumen abgefallen.
Die Verehrung des San Corrado in Noto ist immens. Ein Beispiel: Geht man am Morgen ins Postamt, in dem schon mehrere Männer warten, um sich am Schalter ihre staatliche soziale Unterstützung auszahlen zu lassen und ruft laut: „Ciao Corrado“, so erhält man mehrstimmige Antwort. Einige der Wartenden drehen sich fragend um, wer ihn wohl gegrüßt haben könnte. Viele Familien geben ihren Söhnen den Namen des Stadtpatrons, um den Heiligen zu ehren und in der Hoffnung, dass so ein wenig von seiner Heiligkeit auf sie übergeht. In zahlreichen Vereinigungen und Bruderschaften schließen sie sich zusammen, hauptsächlich um die großen Prozessionen vorzubereiten und durchzuführen. Jährlich wird zum Todestag des Stadtpatrons diesem mit mehreren Messen in der Kathedrale gedacht. Der schwere silberne Sarkophag ist in dieser Zeit im Chorraum hinter dem Altar aufgestellt. Am Abend wird er schließlich von der Corrado-Bruderschaft, kräftigen Männern in einheitlicher Festkleidung, aus der Kathedrale durch die Stadt getragen. Nach katholischem Glauben soll so der Stadt Heil und Segen gebracht, ihr dadurch Schutz vor möglichem Unheil gewährt werden. Die Rückkehr der Reliquie in das prächtige Gotteshaus wird freudig mit Böllerschüssen und einem Feuerwerk abgeschlossen.
Jede Stadt, jede größere Ortschaft auf Sizilien hat einen oder mehrere Stadtpatrone – manchmal werden sie von der enttäuschten Gemeinde auch ausgewechselt –, die in großen Umzügen ihren Gemeinden Schutz und Segen sichern sollen. Das Städtchen Palazzolo Acreide unweit von Noto hat sich den Apostel Paulus als Beschützer ausgesucht. Aus der ihm geweihten Basilika San Paolo wird eine große Holzfigur, San Paolo mit schwarzem Bart und scharfem Schwert, unter ohrenbetäubenden Böllerschüssen, buntem Lamettaregen und rhythmischen Trommelsalven in die Stadt getragen. Junge Mütter reichen nackte, auf den Namen Paolo getaufte Kinder dem Stadtheiligen entgegen, damit sein Heil auch sicher auf die eigene Nachkommenschaft übergeht. Hier nimmt die Prozession buchstäbliche ekstatische Formen an. Im beschaulichen Städtchen Scicli werden wir Zeuge der alljährlich wiederkehrenden Prozession mit einer großen Holzstatue, die niemand geringeres darstellt als die Mutter Gottes: Maria, mit einem Schwert in der Hand, auf einem Pferd reitend. Ihr wird gedankt, dass ihre tatkräftige Hilfe zum Sieg über die Sarazenen und ihre Vertreibung von der Insel Sizilien geführt haben soll. In der ehemals bedeutsamen Hafenstadt Licata wird alljährlich der Heilige Angelus aufs Meer hinausgefahren, um Fischern und Booten den schützenden Segen zu bringen. Heilige und Aberglaube mischen sich zu einem unerschütterlichen Volksglauben.
Doch zurück nach Noto. Corrados Geburtsmonat Februar ist kein rechter Zeitpunkt für große Volksfeste. Es ist kühl, regnet häufig, in der Stadt sind keine
Touristen. Die Einnahmen für Kirche, Stadt und Gewerbe beim Corradofest halten sich in Grenzen. Also wiederholt man das ganze Spektakel im August, wenn die Stadt voller Touristen ist und viele in
Norditalien oder Ausland arbeitende Netini, Bürger Notos, ihren Urlaub in der Heimat verbringen. An jedem letzten Sonntag im August wecken bereits sechs Uhr gewaltige Böllerschüsse die noch
verschlafene Stadt. Aufgeregt rufen die hellen Glöckchen von den Kirchtürmen die ersten Gläubigen zur Frühmesse. Die Kathedrale, der Dom von Noto, hat seine Tore weit geöffnet. Kurz vor zehn Uhr
ruft das volle Geläut zur großen Messe. Die Bruderschaft der Träger schreitet im Abstand und Zweierreihe über die menschenleere prächtige Freitreppe. Ihr folgen in helle Umhänge gehüllte zumeist
ältere Herren, angeführt von einer Dame in schwarzem spanischen Spitzenkleid: Die Ritter zum Heiligen Kreuz. Unverwechselbar mit großem Ritterkreuz auf ihrem Gewand, begeben sich über die lange
Treppe in den Dom. Vor dem der Kathedrale direkt gegenüberliegendem Rathaus versammeln sich die Stadtoberen – der Bürgermeister, erkennbar an der Schärpe mit den Farben der italienischen
Trikolore, Ratsmitglieder, Polizeioffiziere in Paradeuniform. Über den Corso von rechts kommen jetzt die hohen geistlichen Herren: der amtierende Bischof, sein vom Vatikan angereister Vorgänger,
die Priester der Kathedrale und Dozenten des Priesterseminars. Die weltliche Macht steigt die Treppen des Rathauses hinab, die geistliche Macht wird in korrekter Reihenfolge per Handschlag
begrüßt. Dazu intoniert die städtische Banda die italienische Nationalhymne. Nun steigt der Bischof die Treppen hinauf zum Dom, alles folgt. Außer von zwei auf beweglichen Galgen montierten
Fernsehkameras wird die ganze Zeremonie von kaum jemandem verfolgt. Der Himmel ist strahlend blau, die Netini und ihre Gäste liegen wohl nach ausgedehnten Abendvergnügungen noch in den Betten.
Auch die Reisebusse mit Besuchern aus ganz Sizilien sind noch nicht eingetroffen. Nur kleine Gruppen von Pilgern kommen von Zeit zu Zeit im Dom an, um an ihrem Ziel zu beten und die Erfüllung
Ihrer Gelübde anzuzeigen.
Erst am Nachmittag ändert sich das Bild. Überall auf dem Corso, der Flaniermeile, haben Zigeuner auf beweglichen Gestellen errichtete Stände mit Luftballons und billigem Spielzeug für Kinder
aufgestellt. Am Dom findet man Verkaufsstellen für lange und ganz lange Kerzen. Die Straßencafes sind gut besucht, an manchen Stellen des Corso ist kaum noch durchzukommen. Sommerlich knappe
Kleidung der Passanten lässt viel tiefgebräunte Haut sehen - Ergebnis langen intensiven Sonnenbadens an den Stränden. Doch nun vergnügt man sich erst einmal, bis am Abend Glockenläuten in der
ganzen Stadt und mächtige Böllerschüsse neben dem Dom anzeigen, dass der Auszug Corrados bevorsteht. Durch die dicht beieinanderstehende Menschenmenge auf der großen Freitreppe vor der Kathedrale
wird eine Gasse gesichert. Der Sarkophag aus Massivsilber ist schwer und soll niemanden verletzten. Aus dem Dom kommen nacheinander Gruppen seltsam gewandeter Männer - Bruderschaften, die sich zu
Ehren Corrados zusammengeschlossen haben. Es folgen Pilgergruppen aus anderen Diözesen, Frauenkongregationen und die Gruppe geistlicher Herren um den Bischof. Schließlich wird der Sarg sichtbar,
er verweilt vor dem großen Eingangstor, die Menschen beginnen begeistert zu klatschen. Die Träger nehmen das Gestell wieder auf ihre Schultern und tragen es mühsam die vielen Stufen hinunter auf
dem Corso. Hier nimmt die Banda hinter dem Sarg Aufstellung und begleitet von ergreifender Musik und einem großen Teil der Festgäste nimmt die Prozession ihren Gang. Gemächlich schlängelt sich
der feierliche Zug durch die engen Gassen der Altstadt, immer höher hinauf bis in die Oberstadt. Seine Bewegung wird ständig unterbrochen, um den Trägern eine Pause zu gönnen und an den
zahlreichen Kirchen Gebete zu sprechen. Träger bunter Lampions und großer Kerzen geleiten den Zug nahezu vier Stunden durch die Dunkelheit. Kurz vor Mitternacht nähert sich der Zug wieder der
Kathedrale. Großes Glockengeläut und Böllerschüsse zeigen die Rückkehr des Heiligen
an. Bevor er wieder in den hell erleuchteten Dom getragen wird, feiert ihn die Festgemeinde mit einem prächtigen Feuerwerk. Danach kehrt Ruhe in die Stadt ein. Das Fest des San Corrado ist zu
Ende. Zumindest für diesen Tag.
Am darauffolgenden Sonntag, allerdings erst um acht Uhr in der Früh, werden Einwohner und Gäste Notos wiederrum durch mächtige Böllerschüsse geweckt. Heute, im
kleineren Rahmen, ist eine weitere Prozession vorgesehen. Auch die Unterstadt, wo die einfachen Leute und Zigeuner wohnen, soll durch den Heiligen gesegnet und vor Unbill schützt werden. Schon
früh am Abend ziehen sonntäglich gekleidete Erwachsene mit ihren Kindern hinauf in Richtung Dom, um sich mit Einbruch der Dunkelheit zur festlichen Prozession zu formieren. Als der Zug an der
Piazza Bolívar, an der ein kupfernes Standbild an den südamerikanischen Nationalhelden Simon Bolívar erinnert, pausiert, donnern gewaltige Böllerschüsse durch die Unterstadt. Der Lärm wird von
hellen Blitzen begleitet und es dauert nur einen Augenblick, bis wir realisieren, dass sich mit dem menschengemachten Donner heftiges Gewitter mischt. Kurz darauf beginnt es auch schon zu regnen.
Es schüttet, als wenn der Himmel alle Schleusen geöffnet hätte.
Auf der Straße sehen wir die Menschen durch den Regen nach Hause flüchten. Auch unsere Nachbarn erreichen vollkommen durchnässt ihr Heim. Der Mann dieses älteren Ehepaares heißt übrigens
Corrado. Und seine Ehefrau? Richtig: Corradina.
Ganz liebe Grüße aus Sizilien
Euer Günter
SECHS JAHRE SPÄTER
Eine der vier geplanten Wochen liegt nun hinter uns. Wir sind in Ubud, einem bekannten Touristenziel in der Mitte der Insel Bali. Der Schlafrhythmus ist angepaßt, dank der ca 300 m über dem Meeresspiegel weht immer ein kühlendes Lüftchen, das Klima ist sehr gut erträglich.
Unserer Unterkunft besteht aus drei Chalets mit insgesamt sechs Ferienwohnungen. Wir haben eine offene, nicht überdachte Dusche, eine Terrasse und einen großen Schlafraum mit Blick auf Reisfelder und tropische Vegetation.
Das Dörfchen Ubud habe ich das erste mal vor ca. 40 Jahren besucht. Es gab damals noch keinen elektrischen Strom und nur drei Übernachtungsmöglichkeiten. Nicks Losmen war eine davon. Nick ist heute Besitzer von fünf zeitgemäßen touristischen Einrichtungen, alle mit Swimmingpool. Er arbeitet nicht mehr. Nick habe ich nicht gefunden, dafür einen seiner Söhne. Er hat sofort ein Foto von uns gemacht und seinem Vater geschickt. Dieser lässt uns grüßen und fragt, warum wir nicht bei ihm wohnen.
Die Dorfstraße, in der wir untergebracht sind, hat sich vollkommen verändert. Gepflasterte schmale Straße, jede Menge Geschäfte, Anbieter von Touren, Taxifahrten oder Motorrollern, Essplätze und kleine Hotels zeigen den Fortschritt, der ganze Familien ernähren soll.
In den zwei Jahren der Pandemie haben auch die Balinesen sehr gelitten. Durch das Reiseverbot sind die Touristen weggeblieben. Jetzt, mit der Öffnung, sind auch die Menschen wieder zuversichtlich. Sie wissen, dass Bali immer ein Sehnsuchtsort für viele Menschen auf der Welt bleiben wird. Auch wenn sich vieles verändert. Immerhin - die Menschen sitzen in Gruppen oder allein vor ihren Häusern oder Geschäften. Sie grüßen jeden, der vorbeiläuft. Sie haben ihren Humor nicht nur behalten sondern zu einem Überritual gemacht. Wenn man wieder und wieder mit scheinbar freundlichem Interesse gefragt wird, ob es einem gut gehe, wohin man denn jetzt gehe, und man mit scherzhaftem Ton antwortet, man wisse schon, dass sie einem nur eine Taxifahrt aufschwätzen wollten, brechen sie in herzhaftes Lachen aus und die ganze Gruppe der dabeisitzenden Männer lacht begeistert laut mit.. Sie nehmen es einem auch nicht übel, wenn man ihre Begrüßung "Hallo Pa" mit "Hallo Ma" beantwortet .Nach einigen Tagen sind wir bereits bekannt und der Gang über die Dorfstraße wird nur noch mit freundlichem "Hallo" begleitet.
Wir waren in der Zeit, die wir auf Sizilien lebten, nie Eis essen gegangen. Hier auf der Jalan Bisma waren wir. Die Eisdiele nennt sich Lina Roxborough. Im Raum hinter ihrer Eis -Theke produziert Lina Eis und malt bunte Blumenbilder. Davor sind zwei kleine Tischchen und vier Stühle aufgestellt. Lina ist einem Gespräch nicht abgeneigt und erzählt mit wenigen Sätzen ihr halbes Leben. Ihr Nachname komme von ihrem an Krebs gestorbenen Ehemann. Er stammte aus England. Dort würden jetzt auch beider Kinder leben und sie besucht den Rest der Familie jedes Jahr für vier Monate. Mit leichtem Schmunzeln erzählt sie uns, dass sie bisher vergeblich seine Liste gesucht habe. "Seine Liste?" Ja, er habe in den letzten Monaten seiner Krebserkrankung Männer, die er für sie als seine Nachfolger für geeignet hielt, auf eine Liste setzen wollen. Und diese Liste suche sie jetzt. Der Mann scheint viel Humor gehabt zu haben.
Heute beim Frühstück auf der Gemeinschaftsterrasse gab es große Aufregung. Das tschechische Ehepaar an unserem Nachbartisch erhielt überraschend Besuch von einer ausgewachsenen Makakendame. Blitzschnell kam die Äffin aus dem Reisfeld über das Geländer gesprungen, rauf auf einen freien Stuhl, mit zwei sicheren Griffen wurden eine Banane und eine Toastbrotscheibe gegriffen und ab zurück ins Reisfeld. Jedes laute Schreien und Wedeln mit den Händen kam zu spät. Hingegen kamen von allen Seiten weitere Artgenossen und aus der Küche die beiden jungen Frauen, die immer den Kaffee, den Fruchtsalat und den Banana-Pancake servierten. Mit Zwille und Bambusstöcken, lautem Klatschen und Schreien aller Anwesenden wurden die ungebetenen Gäste auf Dächer und in die umstehenden Palmen vertrieben. Der Zwischenfall sorgte für reichlich Gesprächsstoff, das entspannte Frühstück stockte für eine Weile.
Unseren Malerfreund aus vergangenen Besuchen haben wir nicht mehr angetroffen. In dem Anwesen seiner Familien trafen wir nur seinen Bruder. Made sei vor vier Jahren gestorben. Das Malereigeschäft läuft weiter. Mades Sohn hat das Taxigeschäft seines Vaters übernommen. Er war ganz gerührt, dass er uns an Vaters statt von Penestanan zur Jalan Bisma fahren konnte. Wir überlegen Bilder mitzunehmen und sie in Deutschland Galerien anzubieten.
Gestern war es auf der Jalan Bisma für kurze Zeit ganz ruhig. Es war gegen 17:00 Uhr als eine schwarze Limousine, derart wie sie für Taxifahrten angeboten werden, neben einem vornehmen Hotel vorfuhr. Als offensichtliche Fahrgäste erschienen am Hoteleingang zwei Damen schwarzer Hautfarbe. Das allein wäre noch kein Grund gewesen, dass die Männer ihre Gespräche einstellten und ihre Aufmerksamkeit dem gleichen Ereignis zuwendeten. Das Ereignis war eigentlich kein Ereignis: Zwei Damen verlassen eine Balinesische Unterkunft und bewegen sich mit sorgfältig gesetzten Schritten ca. 20 Meter auf ein Auto zu. Die Damen selbst waren das Ungewöhnliche, ja geradezu Erstaunliche. Ihr Alter war schwer einzuschätzen. Sie waren sehr stark geschminkt, die Lippen kräftig rot, die Augen mit künstlichen Wimpern entfremdet, große Ringe an den Ohren. Beider Leibesumfang war gigantisch. Mengen bunten Tuches waren aufgewendet, um enorme Rundungen zusammenzuhalten und zu betonen. An den Füßen trugen sie Pantoffel, ein Paar war mit Pommeln geschmückt. Ihre wenigen Bemerkungen sprachen sie in amerikanischem Englisch.
Dieser Auftritt führte bei den Balinesischen Männern förmlich zu einer Art Atemstillstand. Keiner machte eine Bemerkung. Keiner ließ den anderen erkennen, welch groteskes Schauspiel er eben wahrgenommen hatte. Höflichkeit und Toleranz waren nicht zu überbieten.
Eine der vier geplanten Wochen liegt nun hinter uns. Wir sind in Ubud, einem bekannten Touristenziel in der Mitte der Insel Bali. Der Schlafrhythmus ist angepaßt, dank der ca 300 m über dem Meeresspiegel weht immer ein kühlendes Lüftchen, das Klima ist sehr gut erträglich.
Unserer Unterkunft besteht aus drei Chalets mit insgesamt sechs Ferienwohnungen. Wir haben eine offene, nicht überdachte Dusche, eine Terrasse und einen großen Schlafraum mit Blick auf Reisfelder und tropische Vegetation.
Das Dörfchen Ubud habe ich das erste mal vor ca. 40 Jahren besucht. Es gab damals noch keinen elektrischen Strom und nur drei Übernachtungsmöglichkeiten. Nicks Losmen war eine davon. Nick ist heute Besitzer von fünf zeitgemäßen touristischen Einrichtungen, alle mit Swimmingpool. Er arbeitet nicht mehr. Nick habe ich nicht gefunden, dafür einen seiner Söhne. Er hat sofort ein Foto von uns gemacht und seinem Vater geschickt. Dieser lässt uns grüßen und fragt, warum wir nicht bei ihm wohnen.
Die Dorfstraße, in der wir untergebracht sind, hat sich vollkommen verändert. Gepflasterte schmale Straße, jede Menge Geschäfte, Anbieter von Touren, Taxifahrten oder Motorrollern, Essplätze und kleine Hotels zeigen den Fortschritt, der ganze Familien ernähren soll.
In den zwei Jahren der Pandemie haben auch die Balinesen sehr gelitten. Durch das Reiseverbot sind die Touristen weggeblieben. Jetzt, mit der Öffnung, sind auch die Menschen wieder zuversichtlich. Sie wissen, dass Bali immer ein Sehnsuchtsort für viele Menschen auf der Welt bleiben wird. Auch wenn sich vieles verändert. Immerhin - die Menschen sitzen in Gruppen oder allein vor ihren Häusern oder Geschäften. Sie grüßen jeden, der vorbeiläuft. Sie haben ihren Humor nicht nur behalten sondern zu einem Überritual gemacht. Wenn man wieder und wieder mit scheinbar freundlichem Interesse gefragt wird, ob es einem gut gehe, wohin man denn jetzt gehe, und man mit scherzhaftem Ton antwortet, man wisse schon, dass sie einem nur eine Taxifahrt aufschwätzen wollten, brechen sie in herzhaftes Lachen aus und die ganze Gruppe der dabeisitzenden Männer lacht begeistert laut mit.. Sie nehmen es einem auch nicht übel, wenn man ihre Begrüßung "Hallo Pa" mit "Hallo Ma" beantwortet .Nach einigen Tagen sind wir bereits bekannt und der Gang über die Dorfstraße wird nur noch mit freundlichem "Hallo" begleitet.
Wir waren in der Zeit, die wir auf Sizilien lebten, nie Eis essen gegangen. Hier auf der Jalan Bisma waren wir. Die Eisdiele nennt sich Lina Roxborough. Im Raum hinter ihrer Eis -Theke produziert Lina Eis und malt bunte Blumenbilder. Davor sind zwei kleine Tischchen und vier Stühle aufgestellt. Lina ist einem Gespräch nicht abgeneigt und erzählt mit wenigen Sätzen ihr halbes Leben. Ihr Nachname komme von ihrem an Krebs gestorbenen Ehemann. Er stammte aus England. Dort würden jetzt auch beider Kinder leben und sie besucht den Rest der Familie jedes Jahr für vier Monate. Mit leichtem Schmunzeln erzählt sie uns, dass sie bisher vergeblich seine Liste gesucht habe. "Seine Liste?" Ja, er habe in den letzten Monaten seiner Krebserkrankung Männer, die er für sie als seine Nachfolger für geeignet hielt, auf eine Liste setzen wollen. Und diese Liste suche sie jetzt. Der Mann scheint viel Humor gehabt zu haben.
Heute beim Frühstück auf der Gemeinschaftsterrasse gab es große Aufregung. Das tschechische Ehepaar an unserem Nachbartisch erhielt überraschend Besuch von einer ausgewachsenen Makakendame. Blitzschnell kam die Äffin aus dem Reisfeld über das Geländer gesprungen, rauf auf einen freien Stuhl, mit zwei sicheren Griffen wurden eine Banane und eine Toastbrotscheibe gegriffen und ab zurück ins Reisfeld. Jedes laute Schreien und Wedeln mit den Händen kam zu spät. Hingegen kamen von allen Seiten weitere Artgenossen und aus der Küche die beiden jungen Frauen, die immer den Kaffee, den Fruchtsalat und den Banana-Pancake servierten. Mit Zwille und Bambusstöcken, lautem Klatschen und Schreien aller Anwesenden wurden die ungebetenen Gäste auf Dächer und in die umstehenden Palmen vertrieben. Der Zwischenfall sorgte für reichlich Gesprächsstoff, das entspannte Frühstück stockte für eine Weile.
Unseren Malerfreund aus vergangenen Besuchen haben wir nicht mehr angetroffen. In dem Anwesen seiner Familien trafen wir nur seinen Bruder. Made sei vor vier Jahren gestorben. Das Malereigeschäft läuft weiter. Mades Sohn hat das Taxigeschäft seines Vaters übernommen. Er war ganz gerührt, dass er uns an Vaters statt von Penestanan zur Jalan Bisma fahren konnte. Wir überlegen Bilder mitzunehmen und sie in Deutschland Galerien anzubieten.
Gestern war es auf der Jalan Bisma für kurze Zeit ganz ruhig. Es war gegen 17:00 Uhr als eine schwarze Limousine, derart wie sie für Taxifahrten angeboten werden, neben einem vornehmen Hotel vorfuhr. Als offensichtliche Fahrgäste erschienen am Hoteleingang zwei Damen schwarzer Hautfarbe. Das allein wäre noch kein Grund gewesen, dass die Männer ihre Gespräche einstellten und ihre Aufmerksamkeit dem gleichen Ereignis zuwendeten. Das Ereignis war eigentlich kein Ereignis: Zwei Damen verlassen eine Balinesische Unterkunft und bewegen sich mit sorgfältig gesetzten Schritten ca. 20 Meter auf ein Auto zu. Die Damen selbst waren das Ungewöhnliche, ja geradezu Erstaunliche. Ihr Alter war schwer einzuschätzen. Sie waren sehr stark geschminkt, die Lippen kräftig rot, die Augen mit künstlichen Wimpern entfremdet, große Ringe an den Ohren. Beider Leibesumfang war gigantisch. Mengen bunten Tuches waren aufgewendet, um enorme Rundungen zusammenzuhalten und zu betonen. An den Füßen trugen sie Pantoffel, ein Paar war mit Pommeln geschmückt. Ihre wenigen Bemerkungen sprachen sie in amerikanischem Englisch.
Dieser Auftritt führte bei den Balinesischen Männern förmlich zu einer Art Atemstillstand. Keiner machte eine Bemerkung. Keiner ließ den anderen erkennen, welch groteskes Schauspiel er eben wahrgenommen hatte. Höflichkeit und Toleranz waren nicht zu überbieten.